"Demokratie und Nächstenliebe": Eröffnungsrede von Julius Wagner zum Neujahrsempfang
Herzlich willkommen zum gemeinsamen Neujahrsempfang der Stadt Eltville am Rhein und der Stiftung Kloster Eberbach!
Liebe Freundinnen, Freunde und Fans von Kloster Eberbach,
schön, dass Sie alle da sind, dass Ihr alle da seid!
Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten!
Ausgestattet mit den vermeintlichen Weihen dieses Ortes und jedenfalls mit der Lust und Freude, durch und mit Kloster Eberbach für Sie einen Beitrag zu stiften, wünsche ich uns allen ein gesundes und gutes neues Jahr.
Was das Jahr gut werden lässt, das definiert eine Jede, ein Jeder von uns persönlich für sich selbst.
Wir blicken über, das ganz Persönliche hinaus, auf uns als Schicksalsgemeinschaft in den unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen Sphären, die uns angehen, in denen wir mit unseren Bedürfnissen beheimatet sind und die für unser Leben Bedeutung haben.
Da mag Kloster Eberbach – ganz verschieden für uns – eine untergeordnete Rolle spielen, eine Randerscheinung sein. Doch ich strecke die Hand aus, um die Ihre fest zu nehmen, um sie Ihnen freundschaftlich auf die Schulter zu legen und uns im Geist der Gemeinschaft, des Miteinanders zu stärken.
So vermessen wag ich’s aus der Kraft unseres alten Klosters, die sich allein aus Ihnen und der Tatsache speist, dass Sie, und zwar nicht nur heute, hier sind.
Zugegeben, es ist gar nicht so leicht, einen jeden fest zu umarmen. Und nicht jeder findet das so gut (von mir umarmt zu werden…).
Doch: Wir sollten keine Angst davor haben, im Anderen immer auch uns selbst und unser Bedürfnis nach Wahrnehmung, Anerkennung und Liebe zu erkennen.
Und wir sollten den Mut haben, unsere Menschenwürde in jedem Gegenüber zu respektieren und aufrichtige Nächstenliebe zuzulassen.
Denn die wird erst dann bedeutsam, wenn wir sie gerade gegenüber jenen ausüben, die uns unbequem sind, die wir fürchten, ablehnen und gegenüber jenen, die uns bekämpfen. Das heißt nicht: nachlassen, das heißt nicht: beigeben, nein, das heißt: keine Furcht empfinden, sondern einander anzublicken und nicht umzubringen, so unterschiedlich wir die Welt, die Zukunft, das Leben sehen. Es gilt immer und gerade dann: Liebe Deinen Nächsten, denn er ist wie Du. Denn er ist wie Du...
Eigentlich hatte ich vor, im Rahmen meiner kurzen Begrüßung über die anstehenden Projekte in Kloster Eberbach zu erzählen. Davon gibt es in diesem Jahr einige. Dann erfuhr ich, dass unser diesjähriger Neujahrsempfang unter dem Motto „Demokratie“ steht, lieber Patrick, lieber Ingo. Da passt jetzt eine LEGO® Ausstellung, der Bau eines Bienenhauses oder Glaskunst in der Basilika nicht ganz so.
Oder doch?
Anders als bei der Installation des Fensters des deutschen Künstlers Thomas Bayrle im Kreuzgang von Kloster Eberbach, haben wir mit Blick auf ein weiteres Glaskunstfenster in der Basilika – des deutsch-britischen und aus Ingelheim stammenden Künstlers Michael Anthony Müller – eine Besucherbefragung durchgeführt. Der Künstler erklärte sich damit einverstanden, für die Dauer von drei Monaten eine Probeinstallation mit einer Folierung in angepassten Rahmen an den drei gegenständlichen Fenstern im Südquerschiff der Basilika anzubringen und die Besucherinnen und Besucher darüber abstimmen zu lassen.
Die Frage, die es zu beantworten galt, war denkbar einfach: "Gefällt oder gefällt nicht?" Schließlich: "Sind Sie für oder gegen die Fenster? Ja oder Nein?" Einer Beantwortung dieser Frage mit einem "Ja" oder "Nein" liegen möglicherweise – und in einigen Fällen weiß ich das ganz sicher – komplexe Vorüberlegungen zu Grunde.
Diese reichen von der grundsätzlichen Frage, ob farbige moderne Kunstfenster in der romanischen Basilika von Kloster Eberbach überhaupt statthaft sind, sie möglicherweise einen Frevel darstellen, die Klosterkirche in ihrer einzigartigen Schlichtheit nachgerade zerstören über den Gedanken einer progressiven Fortentwicklung, von Lebendigkeit und Auseinandersetzung mit den durch die Kunst ausgelösten Empfindungen des Betrachters und Verweisen auf ähnliche Installationen wie im Kölner Dom mit Gerhard Richter, im Dom zu Mainz mit Marc Chagall oder in der Klosterkirche von Tholey mit der muslimischen Künstlerin Mahbuba Maqsoodi bis hin zu dem einfachen Reflex des spontanen Gefallens oder Missfallens.
Das Ergebnis? Es wurden 1.598 Stimmen abgeben, 898 Besucher stimmten mit "Ja" (56 Prozent), 700 mit "Nein" (44 Prozent).
Sie merken schon, Demokratie liegt in der Luft.
Bemerkenswert ist jedoch, was schon während dieses Abstimmungsverfahrens und noch mehr nach Bekanntgabe des Votings geschah.
Bereits zu Beginn und während des Verfahrens wurde, insbesondere von den erklärten Gegnern der Idee, das Verfahren selbst in Frage gestellt. Es könne nicht angehen, dass man über eine so wichtige Frage einfach eine offene Publikumsbefragung durchführe.
Die Menschen, die zum Abstimmen aufgerufen werden, seien schließlich keine Fachleute, verstünden nichts von der architekturhistorischen Bedeutung der Basilika, schon gar nichts von den Zisterziensern, oder den Prämissen, unter welchen die Klosterkirche in ihren heutigen Zustand saniert wurde.
Ich merke an: Jeder, der die Basilika im damaligen Zeitraum betrat, konnte abstimmen. Jeder. Ein Professor der Kunstgeschichte genauso wie eine Gastwirtin, ein Lehrer, eine Gästeführerin, ein Minister, eine Reinigungskraft.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, doch ich spüre eine gewisse Parallele zum allgemeinen Wahlrecht. Am 23. Februar wählt keine Expertenkommission ein neues Parlament, sondern alle mindestens 18-jährigen, deutschen Staatsbürger.
Wir. Der Mop. Der Pöbel. Das gemeine Volk aus Professorinnen und Winzern.
Per defintionem ist genau dies eines der wichtigsten Merkmale moderner Demokratien.
Und nun vermute ich, dass Sie mir womöglich – auch wenn Sie die Idee solcher Fenster furchtbar finden – jedenfalls geneigt sind zuzustimmen, wenn ich konstatiere, dass die Bedeutung des kommenden Bundestagswahlergebnisses für unser Leben im Verhältnis zu Kunstglasfenstern in der Basilika auf einer Wichtigkeitsskala nicht ganz niedrig zu bewerten ist.
Bei der Parlamentswahl machen wir das also: Wir lassen alle abstimmen, unabhängig von Bildung, Herkunft, Religion, Geschlecht usw. Bei etwas Ernstem wie der Kunst hört der Spaß aber auf…
Als das Ergebnis schließlich vorlag, wurde das Abstimmungsverfahren schließlich technisch in Zweifel gezogen. Es hätte ja mehrfach abgestimmt werden dürfen und ob die Auswertung überhaupt korrekt gelaufen sei…
Klingt ein wenig nach "Die Wahl wurde manipuliert. Wir erkennen das Ergebnis nicht an." Ja, klingt ein bisschen wie in Christian Morgensterns Gedicht "Die unmögliche Tatsache": "Weil", so schließt er messerscharf, "nicht sein kann, was nicht sein darf."
Wissen Sie, viel mehr als um die Frage des tatsächlich Statthaften an der Installation von moderner Glaskunst in der Basilika geht es um den ausgelösten Prozess des Diskurses, des Miteinanderdiskutierens und, wie ich lernte, unsere Streitkultur. Und was ist streitbarer als die Kunst? Und dann noch in einer einstigen Klosterkirche? Nur noch die Politik.
Und wenn Sie mich fragen, was ist denn Ihrer Meinung nach das Wesen von Kloster Eberbach. Dann sage ich Ihnen: Genau das! Wir erzählen die Geschichte von Mönchen, vom Zusammenleben in einer Schicksals- und Glaubensgemeinschaft, von demokratischen Abstimmungen im Kapitelsaal.
Dabei schöpfen wir aus dem Reichtum des Klosters gewesener Geschichte. Doch da machen wir nicht Halt. Wir gehen diesen Weg weiter und üben uns in Streitkultur.
In diesem Zusammenhang erlebte ich Momente, in denen es galt, sich sehr an das eingangs Gesagte zu erinnern: "... Denn er ist wie Du" und fest bei sich und dem Postulat von Nächstenliebe und Verständigkeit zu bleiben. Denn so mancher Anwurf war nicht von Respekt und Höflichkeit, sondern vielmehr von einem völlig aus der Form geratenen Duktus geprägt, den ein sensibler Mensch zuweilen als verletzend empfinden könnte.
Im Rahmen einer solchen Auseinandersetzung mit Argumenten und auch im Umgang mit den Ergebnissen eines demokratischen Prozesses ist es – aus diesem Gebot folgend – ganz entscheidend, Menschen mit ihren unterschiedlichen Positionen durch Kontroversen zu führen, ohne dabei dauerhafte Brüche zu zeitigen. Dafür, dass – trotz einer grundlegend anderen Auffassung über das Wesen von Kloster Eberbach – Raum geschaffen wird, in dem diese unterschiedlichen Meinungen artikuliert werden können und dennoch nicht das Band zerschnitten wird, braucht es die Stabilität guter und auf Wertschätzung und Respekt beruhender Beziehungen.
Und die gelingen meistens dann, wenn man gerade auch in Konflikten sein institutionelles Ego (als Stiftung) und die eigene (durchaus eitle) Verletzlichkeit etwas relativiert und anerkennt, dass es andere Meinungen gibt, die schließlich auch bestehen dürfen müssen. Solange das Motiv dabei ist, Dinge zum Guten und zum Wohle aller zu gestalten, also das Kloster in die Zukunft zu führen, zu erhalten und zu entwickeln, ist das gut und demokratische Pflicht im eigenen kleinen Wirkungskreis. Dann können wir auf diesem Wege miteinander trefflich streiten, auch mit der härteren Gangart leidenschaftlicher Überzeugungen des Herzens.
So verhält es sich sicher auch gerade vor der anstehenden Bundestagswahl, gerade mit Blick auf die kommende Trump-Ära in den USA und den Tendenzen in den europäischen Nachbarländern, mit unserer in diesen Tagen viel als bedroht erlebten Demokratie.
Die geschilderten Erfahrungen aus dem Mikrokosmos Kloster Eberbach und der Diskussion um die Kunstfenster, mehr noch um den offenen demokratischen Abstimmungsprozess darüber, machen wie ein Brennglas unsere aktuellen wirklich großen Herausforderungen als Gesellschaft sichtbar: Echte Demokratie kann schmerzhaft sein.
Sie verlangt uns viel ab, nämlich die Auseinandersetzung mit dem gänzlichen Anderen und Andersdenkenden. Sie ist ein Kampf, deren größte Herausforderung für uns dann noch ist, wenn wir verloren haben, dies zu akzeptieren, aufrecht und fair zu bleiben, aber vor allem nicht den Abstimmungsprozess, nicht die Demokratie selbst in Frage zu stellen. Nein, für den Weg, der mich zu einer Niederlage führte, überzeugt einzutreten. Denn es ist der einzige Weg, auf dem ich frei wählen kann. Die anderen sind nämlich immer da. Auch auf den anderen Pfaden.
Der umstrittene Philosoph und Staatswissenschaftler Eric Voegelin formulierte es im Jahr des Nachkriegsdeutschland 1959 so:
"Wir leben in einem freien, demokratischen Gemeinwesen, und wir wollen, dass es frei und demokratisch bleibe. Aber Freiheit und Demokratie sind nichts, was durch die Einrichtung einer Verfassung ein für alle Mal garantiert werden könnte. Wir haben eine demokratische Verfassung gehabt.
Aber sie wurde in ihrem Funktionieren durch die Blockmajorität von rechts und links gelähmt; und sie wurde durch Gewalt, die nicht den Widerstand organisierter Gegengewalt hervorrief, hinweggefegt. Gewiss haben nicht alle, die zu der Katastrophe ihr redliches Teil an Enthusiasmus und Bemühen beigetragen haben, die Folgen gewollt. Nur zu oft haben wir sie stammeln gehört: 'So haben wir es nicht gemeint' – in der Erwartung, dass man sie für den Gedanken nach der Tat auf die Schulter klopfen würde. Aber dem Bürger einer Demokratie ist der Gedanke nach der Tat nicht erlaubt – er muss vorher denken, und er muss wissen, was er tut."
Das ist heuer aktueller als in vielen hinter uns liegenden Jahren.
Unsere Demokratie ist folglich so stark wie wir es sind, so stark wie wir couragiert für sie stehen, und das bedeutet auch, wie stark wir sind, es auszuhalten, unliebsame Mehrheitsentscheidungen zu ertragen – wie zum Beispiel die "Windmühlen der Schande"…
Reden wir sie nicht klein, reden wir sie nicht in Gefahr, doch seien wir uns der echten persönlichen Kraftanstrengung für sie bewusst.
Treten wir – in genetischer Tradition als Jäger und Sammler - dem Säbelzahntiger der Demokratiezweifler- und -gegner entschlossen und brüllend gegenüber und machen uns groß, dass er uns vor Schrecken fürchten muss.
Neben unserer neolithischen Keule haben wir ein Instrument, ein Mittel unserer Kultur, dass uns wirklich befähigt, mit den daraus resultierenden Konflikten so umzugehen, dass wir uns nicht dazu verführen lassen müssen, im Falle großer Frustration gleich das gesamte demokratische System in Frage zu stellen: Und da ist sie wieder, die Nächstenliebe.
Sie ist einer der größten Werte der christlichen Religion und vielleicht ihr wichtigster Beitrag für die zivilisierte Menschheit, gleich welchen Glaubens oder Nichtglaubens. Wir haben nur angesichts des Niedergangs von Kirche und Glaube selbst zuweilen Erkenntnis und Haltung verloren, um das zuzugeben und uns daran zu orientieren.
Das vor uns liegende Jahr, unsere Demokratie, unser Leben wird gut werden, wenn wir gut sind. Und wie das geht, wissen wir.
Als Königin Luise von Preußen 1807 vergeblich versuchte, gegenüber dem bei Jena und Auerstedt siegreichen Napoleon mildere Friedensbedingungen für Preußen zu erreichen, notierte sie – und damit meinte sie nicht Napoleon – in ihr Tagebuch:
Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten!
Vielen Dank.
19.01.2025 ⋅ Aktuelles